
Überall im Alltag begegnen uns Verträge. Auch (Generationen-)Gerechtigkeit lässt sich als Vertrag denken: Gerecht geht es dann zu, wenn eine Lösung gefunden wird, der alle freiwillig zustimmen können, die alle unterschreiben würden.
Key Insights: Worum es geht?
- Überall im Alltag begegnen uns Verträge. Ihre normative Kraft beruht auf Freiwilligkeit und Eigeninteresse: Wir unterschreiben Verträge freiwillig – und wir unterschreiben sie, weil wir uns von ihnen Vorteile erwarten.
- Auch (Generationen-)Gerechtigkeit lässt sich als Vertrag denken: Gerecht geht es dann zu, wenn eine Lösung gefunden wird, der alle freiwillig zustimmen können, die alle unterschreiben würden.
- Um wirklich gerechte Lösungen zu finden, kann es sinnvoll sein, von bestehenden sozialen
Unterschieden und Hierarchien einmal abzusehen. Das Gerechtigkeitsmodell des Vertrags kann dies in einem Experiment leisten: Stellen wir uns vor, wir sind an einem Vertrag beteiligt und kennen die Rolle aller Vertragspartner*innen. Wir wissen aber nicht, welche Vertragspartner*in wir selbst sind, auf welcher Seite wir den Vertrag unterschreiben müssen: Wie würden wir den Vertrag dann ausgestalten? Wenn wir diese Frage beantworten, wissen wir, wie eine gerechte Lösung aussieht.
Praktische Szenarien: Generationengerechtigkeit vor Ort diskutieren
- Ob bei einem Bürger*innendialog, im kommunalen Projekt oder in Ihrem Verein: Probieren Sie den Vertragsschluss doch einmal aus! Teilen Sie sich in Gruppen auf und diskutieren, über die großen Fragen, landesweit und vor Ort. Zum Beispiel: Das Loch in der Rentenkasse ist wieder größer geworden, nun steht die Frage an: höhere Beiträge, langsamer steigende Renten, mehr Steuerzuschüsse: Welche Lösung würden Sie warum wählen, wenn Sie nicht wissen, ob Sie in Rente sind oder am Anfang Ihres Berufslebens stehen, ob Sie viel verdienen und privat für das Alter vorsorgen können oder aber im Alter allein auf die gesetzliche Rente angewiesen sind?
- Das Modell funktioniert auch mit Blick auf konkrete Probleme mit Generationenbezug vor Ort: Denken Sie zum Beispiel an einen konfliktbehafteten Platz in Ihrer Kommune: Die vorwiegend älteren Anwohner*innen ärgern sich über laute Musik, Gespräche und Gejohle auf dem Platz bis in die Nacht hinein – und Jugendliche oder Studierende freuen sich, mit dem Platz den perfekten Ort zum Abhängen gefunden zu haben. Wie sähe eine gerechte Lösung des Konflikts aus? Für welche Lösung würden Sie plädieren, wenn Sie nicht wissen, auf welcher Seite Sie stehen, wenn Sie nicht wissen, ob Sie als Jugendliche, Ladenbetreiber*in oder als Anwohner*in ein Interesse an dem Platz haben?
Gerechtigkeit zwischen den Generationen als Vertrag
Niemand entkommt dem Vertrag. Ob wir eine Wohnung mieten oder eine SIM-Karte für das Smartphone kaufen, eine Versicherung abschließen oder ein Konto eröffnen: Stets müssen wir vorab ein immer öfter immer umfangreicheres Vertragsdokument unterschreiben, das wir in den seltensten Fällen wirklich gründlich gelesen und überprüft haben. Verträge gehen wir manchmal sogar durch sprachliche Handlungen ein, ohne auch nur ein Satz Gedrucktes zu lesen, geschweige denn zu unterschreiben: Sobald wir im Restaurant eine Bestellung aufgeben, kommt ein Bewirtungsvertrag zustande. Wir verpflichten uns, die bestellten Getränke und Speisen zu den auf der Karte angegebenen Preisen zu bezahlen.
Warum binden uns Verträge?
Das Restaurant bietet reiches Anschauungsmaterial für die normativen Grundlagen von Verträgen: Warum binden uns Verträge, warum gehen wir Verträge ein? Vor allem zwei Gründe sind hier zu nennen: Erstens, Verträge gelten, weil wir sie freiwillig schließen. Niemand zwingt uns dazu, ein gutes italienisches Restaurant oder ein Wiener Café zu besuchen. Wenn wir dort aus freien Stücken erscheinen und ein Gericht unserer Wahl bestellen, verpflichten wir uns freiwillig dazu, das Gericht auch zu bezahlen. Zweitens, von Verträgen erwarten alle Beteiligten Vorteile: Die Restaurantbesitzerin verdient ihr Geld mit der Kundschaft ihres Betriebs. Die Gäste bezahlen, weil sie sich davon ein gutes Essen und ein paar schöne Stunden mit lieben Menschen in einer angenehmen Umgebung versprechen. Der ideale Vertrag, das zeigt der Restaurantbesuch, wird von allen Beteiligten freiwillig und zum wechselseitigen abgeschlossen.
Weil uns Verträge aus dem Alltag so vertraut sind und weil ihre normativen Grundlagen, Freiwilligkeit und wechselseitiger Vorteil, relativ unproblematisch erscheinen, haben Philosoph*innen immer wieder versucht, Gerechtigkeit zwischen den Generationen als eine Art Vertrag zu denken. Wir kennen das vor allem aus den Sozialversicherungen, wo etwa oft vom Generationenvertrag der Rente gesprochen wird. Jede Generation, so lautet die Idee, profitiert vom Rentensystem, indem sie sich in den Jahren der eigenen Berufstätigkeit um die Erziehung der Kinder kümmert sowie Beiträge zur Rentenversicherung zahlt, um im Alter selbst Rentenleistungen zu beziehen.
Generationenbeziehungen als faire Verträge denken
Nun ist das Rentensystem in Wirklichkeit kein Vertrag, den wir unterschreiben oder verweigern können. Doch der Gedanke hilft uns trotzdem weiter: Wir können uns den Vertrag schließlich vorstellen – und uns dann fragen: Würden wir unterschreiben, ja oder nein? Wenn nicht, warum nicht? Indem wir Antworten auf diese Fragen suchen, denken wir über die Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit des Systems nach.
Verträge erscheinen uns zumeist gerecht oder ungerecht, wenn wir sie aus unserer Sicht betrachten, etwa den Rentenvertrag als Angehörige einer bestimmten Generation. Wenn wir immer von unserer persönlichen Perspektive ausgehen, wie können wir uns dann überhaupt eine Regelung vorstellen, die für alle Beteiligten gerecht ist? Hier hatte der US-amerikanische Philosoph John Rawls vor etwas mehr als fünfzig Jahren eine Idee: Wir müssen uns überlegen, wie wir einen Vertrag ausgestalten, bei dem wir nicht wissen, welche Vertragspartei wir selbst sind. Also: Wie würde ich einen Rentenvertrag ausgestalten, wenn ich nicht weiß, in welcher Position ich ihn unterschreiben muss, ob etwa als Person, die 1940, 1960, 2000 oder 2025 geboren worden ist. Ebenso können wir mit Blick auf die Kosten der Bekämpfung der Klimakrise und der Transformation in Richtung einer klimaneutralen Gesellschaft fragen: Wann sind die Kosten so verteilt, dass eine Person einem Kostenverteilungsplan zustimmen könnte, ohne zu wissen, welcher Generation sie angehört? Für alle großen Konfliktthemen zwischen den Generationen lassen sich entsprechende Entscheidungsszenarien modellieren, die uns helfen können zu entscheiden, was warum gerecht ist. So kann uns die Vertragsidee dabei helfen, besser zu erkennen, wo Probleme zwischen den Generationen liegen – und vielleicht auch, wie sie zu lösen sind.
Wer mehr wissen will:
Ein spannendes Erklärvideo zu John Rawls und der Idee, Gerechtigkeit als Vertrag zu denken, hat Samuel Jalalian produziert. Es ist bei YouTube verfügbar:
Kurze Informationen zu zentralen Fragen und Themen der Generationengerechtigkeit, darunter auch zur Rente und zur Idee des Vertrags, finden sich auf der Homepage der Stiftung für die Rechte zukünftiger Generationen: https://generationengerechtigkeit.info/.
Wer lieber ein Buch lesen mag:
- John Rawls hat seine berühmt gewordene Idee zur Gerechtigkeit als Vertrag erstmals in seinem Aufsatz Justice as Fairness / Gerechtigkeit als Fairness (dt. Übersetzung von Corinna Mieth und Jacob Rosenthal, als zweisprachige Ausgabe erschienen im Reclam Verlag) präsentiert.
- Einen sehr guten Überblick über Fragen der Generationengerechtigkeit bietet Kirsten Meyer in ihrem Buch Was schulden wir künftigen Generationen? Herausforderung Zukunftsethik (Reclam Verlag). Dabei geht sie auch auf die Idee des Vertrags ein (Kap. 5.2, S. 144–157).
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Die Beitragsreihe Bilder der Generationen ist ein Angebot vom GenerationenCampus in Kooperation mit der Leibniz Universität Hannover. Es wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung im Rahmen der DATIpilot-Förderrichtlinie gefördert. Wir danken herzlich dem Autor dieses Beitrages und zeitgleich unserem Partner Dr. Johannes Müller-Salo von der Universität Hannover.
