
In unserem Leben besteht alles aus wechselseitigen Beziehungen. Besonders zwischen Jungen und Alten oder zwischen Mutter und Kind entsteht ein Grundgedanke des fairen Gebens und Nehmens.
Key Insights: Worum es geht?
- Wer Generationengerechtigkeit als Wechselseitigkeit versteht, geht vom Grundgedanken des fairen Gebens und Nehmens aus: Gerechtigkeit herrscht dort, wo alle Generationen ihren Beitrag leisten. Wo eine Generation – ob in einer Familie oder in der Gesellschaft – den Eindruck hat, mehr geben zu müssen als erhalten zu können, ist dies ein deutlicher Hinweis auf mögliche Ungerechtigkeiten
- In manchen Fällen findet das Geben und Nehmen direkt zwischen zwei Generationen statt: Eltern kümmern sich um ihre Kinder, hinterlassen ihnen etwas und können im Gegenzug auf die Dankbarkeit und Unterstützung ihrer Kinder zählen. Doch nicht immer ist es möglich, denjenigen etwas zurückzugeben, von denen man viel erhalten hat. Immer möglich ist aber indirekte Wechselseitigkeit: Die mittlere Generation gibt als Dank für die Dinge, die sie von ihren Eltern erhalten hat, ihrerseits ihren Kindern wichtige Ressourcen und Fähigkeiten mit auf den Weg.
Praktische Szenarien: Generationengerechtigkeit vor Ort diskutieren
- Für verschiedene Dialogformate könnt ihr mit fiktiven Familiengeschichten arbeiten: Erstellt eine kurze Familienbiografie, indem ihr beispielsweise erzählt, wie ein Haus (oder ein Hof) von verschiedenen Generationen einer Familie nacheinander bewohnt wird: Beschreibt, was die einzelnen Generationen am und im Haus getan haben, etwa mit Blick auf das Erziehen von Kindern, die Pflege der Eltern oder größere Modernisierungen. Lasst die Teilnehmer*innen diskutieren: Haben sich die einzelnen Generationen fair in das „Projekt“ Familie eingebracht? Wer kann sich in Ihrer fiktiven Geschichte mit Recht über unfaire Behandlung beklagen? Was lässt sich daraus für die Frage lernen, wann das Miteinander zwischen Älteren und Jüngeren gelingt?
- Diskutiert ausgewählte Probleme in Ihrer Kommune: Welche Infrastrukturen haben die ältere und auch die mittlere Generation vor Ort bereits vorgefunden, von ihren Vorfahren übernommen, von öffentlichen Gebäuden bis hin zu Vereinen und sozialen Treffpunkten? Wie gut gelingt es, diese Strukturen an die Jüngeren weiterzugeben oder für diese neue Strukturen zu schaffen?
Gerechtigkeit zwischen den Generationen als Wechselseitigkeit
Wir alle kennen es: In den warmen Sommertagen, wenn die Sonne hoch am Himmel steht und außer Schlummern keine Tätigkeit sinnvoll erscheint, sind Plätze unter alten Bäumen noch immer die besten. Wir können uns an den Stamm lehnen, die Krone spendet Schatten und ab und an weht ein kühlendes Lüftchen. Vielleicht kommt uns an einem solchen Tag die Frage in den Sinn, wie lange unser Schattenspender wohl schon steht: Viele Bäume brauchen Jahrzehnte, um zu voller Größe heranzuwachsen. Im Halbschlaf geht dann ein stiller Dank an Oma und Opa raus: Das mit dem Baum war eine hervorragende Idee! Und wenn wir wieder wach sind, kommt noch ein Gedanke dazu: Ist die schattige Kühle, die wir gerade genossen haben, nicht ein guter Grund, selbst einen Baum zu pflanzen?
Geben und Nehmen zwischen den Generationen
Viele Überlegungen zur Gerechtigkeit zwischen den Generationen setzen bei dem Gedanken an, dass die Generationen wechselseitig aufeinander angewiesen sind. In den unterschiedlichsten Lebensbereichen profitieren Ältere und Jüngere voneinander: Die Jüngeren erben nicht nur die Bäume auf dem elterlichen Grundstück, sondern auch das Grundstück selbst, eine politische Ordnung, Sozialversicherungssysteme und kulturelle Schätze. Die Jüngeren kümmern sich im Gegenzug um die Älteren, wenn diese in hohen Jahren beispielsweise auf Unterstützung im Haushalt oder auf Pflege angewiesen sind.
Wer Generationengerechtigkeit als Wechselseitigkeit versteht, geht vom Leitbild des fairen Gebens und Nehmens aus: Gerecht geht es zwischen den verschiedenen Generationen einer Familie ebenso wie zwischen den verschiedenen Generationen einer Gesellschaft dann zu, wenn alle sich in etwa gleichermaßen einbringen, wenn alle von den anderen etwas erhalten und im Gegenzug bereit sind, sich für die anderen auch zu engagieren, ihnen etwas zugutekommen zu lassen.
Wer aus dieser Perspektive auf das Verhältnis von Jüngeren und Älteren schaut, wird allerdings relativ bald auf ein Problem aufmerksam werden: Zwischen den Generationen gibt es viele Einbahnstraßen. Wenn eine Tochter etwas von ihrem Vater erbt, dann kann sie sich sicherlich nicht dadurch revanchieren, dass sie wiederum ihrem Vater etwas vererbt. Die Zeit verläuft nun einmal nur in eine Richtung. Das heißt nicht, dass die Tochter nicht ihrerseits dem Vater etwas „zurückgeben“ kann, etwa Zuwendung, Dankbarkeit und Unterstützung. Aber bestimmte Leistungen in ihrem Verhältnis bleiben ungleich verteilt.
Erhalten und Weitergeben. Indirekte Wechselseitigkeit
Was für das Erbe gilt, gilt auch für den schönen Baum im Garten: Die Tochter kann dem Vater keinen Baum pflanzen, unter dessen Krone er einmal im Schatten sitzen wird. Bleibt sie also als Tochter immer etwas schuldig? Schon der römische Philosoph Cicero hatte im ersten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung darauf eine Antwort gefunden. In seiner Schrift Über das Alter erzählt er von einem alt gewordenen Bauern, der Bäume pflanzt und dabei ganz genau weiß, dass diese Bäume erst lange Zeit nach seinem Tod die ersten Früchte tragen werden. Warum macht er das, ist das nicht für ihn persönlich unvernünftige Zeitverschwendung? Ciceros Bauer antwortet: Ich mache das, weil ich mein Leben lang Früchte von den Bäumen geerntet habe, die meine Vorfahren gepflanzt haben.
In unserer Gegenwart ist dieser Grundgedanke zu Theorien der Generationengerechtigkeit weiterentwickelt worden, die oftmals als Theorien der indirekten Wechselseitigkeit oder auch indirekten Reziprozität bezeichnet werden. Die Grundidee ist dieselbe: Jede Generation ist darauf angewiesen, dass die vorherige Generation ihr Vieles und sehr Verschiedenes hinterlässt. Sie bleibt zugleich den Vorherigen etwas schuldig, weil sie als jüngere Generation niemals ähnlich viel zurückgeben kann. Dieser „Schuld“, besser gesagt: dieser Verpflichtung, kann sie aber gerecht werden, indem sie wiederum ihren Kindern Vieles und sehr Verschiedenes hinterlässt. So ist es im Großen mit einer funktionierenden politischen Ordnung und im Kleinen mit dem Bäumen im Garten: Eben weil der Vater einen Baum gepflanzt hat, dessen Schatten vor allem die Tochter genießen kann, hat die Tochter einen guten Grund, für ihr eigenes Kind einen Baum zu pflanzen, unter dem es in ein paar Jahrzehnten dankbar sitzen kann und den Sommer genießen wird.
Wer mehr wissen will:
Die Stiftung für die Rechte zukünftiger Generationen arbeitet in Politik und Öffentlichkeit für Ziele der Generationengerechtigkeit und geht insbesondere der Frage nach, was in verschiedenen Handlungsfeldern unter Generationengerechtigkeit sinnvoll verstanden werden kann. Viele Infos rund um das Thema gibt es unter www.generationengerechtigkeit.info.
Die Schweizer Bildungsplattform Wandel vernetzt denken hat in zwei spannenden Einführungsvideos Grundfragen der Generationengerechtigkeit kompakt erklärt. Die Videos sind frei verfügbar
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Die Beitragsreihe Bilder der Generationen ist ein Angebot vom GenerationenCampus in Kooperation mit der Leibniz Universität Hannover. Es wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung im Rahmen der DATIpilot-Förderrichtlinie gefördert. Wir danken herzlich dem Autor dieses Beitrages und zeitgleich unserem Partner Dr. Johannes Müller-Salo von der Universität Hannover.
